Bundesverfassungsgericht: Regelung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg zur Erhebung von Anschlussbeiträgen verstößt gegen das Rückwirkungsverbot
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschlüssen vom 12.11.2015 (Az. 1 BvR 2961/14 und 1 BvR 3051/14) zwei Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Berlin-Brandenburg über die Festsetzung von Beiträgen für den Anschluss von Grundstücken an die Schmutzwasserkanalisation aufgehoben und die Sachen zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
Nach den Beschlüssen des BVerfG kommt es durch die Änderung des § 8 Abs. 7 Satz 2 Kommunalabgabengesetz Brandenburg (KAG Bbg) in der Fassung von Art. 5 des Zweiten Gesetzes zur Entlastung der Kommunen von pflichtigen Aufgaben vom 17. Dezember 2003 (GVBl. I Nr. 16 vom 23.12.20003, S. 294) zu einer echten und daher unzulässigen Rückwirkung für solche Grundstücke, die nach der bis zum 31.01.2004 geltenden Rechtslage nicht mehr zu einem Beitrag herangezogen werden konnten.
Nach der bis zum 31.01.2004 geltenden Rechtslage entstand die Beitragspflicht gemäß § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg alte Fassung (a.F.), „sobald das Grundstück an die Einrichtung oder Anlage angeschlossen werden kann, frühestens jedoch mit dem Inkrafttreten der Satzung“. Von der Rechtsprechung des OVG Frankfurt (Oder) mit Urteil vom 08.06.2000 (Az. 2 D 29/98.NE) wurde diese Formulierung so ausgelegt, dass es nicht auf die formelle und materielle Gültigkeit dieser Satzung, sondern ausschließlich auf den formalen Akt des Satzungserlasses ankomme. Für das Entstehen der Beitragspflicht und den Beginn der vierjährigen Festsetzungsfrist gemäß § 12 KAG Bbg in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Abgabenordnung (AO) für den Anschlussbeitrag war es nach dieser Entscheidung unerheblich, ob die erste Satzung wirksam oder unwirksam war. War die erste Beitragssatzung unwirksam, konnte die Beitragspflicht für die betroffenen Grundstücke nur noch durch eine nachfolgende wirksame Beitragssatzung begründet werden, die rückwirkend auf das Datum des formalen Inkrafttretens der ersten, unwirksamen Beitragssatzung in Kraft gesetzt wurde. Wenn aber zum Zeitpunkt des Erlasses der ersten rechtswirksamen Satzung die Festsetzungsfrist von vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die unwirksame Satzung in Kraft treten sollte, bereits abgelaufen war, konnte die Beitragspflicht mit dem rückwirkenden Inkraftsetzen der rechtswirksamen Satzung nur für eine „juristische Sekunde“ entstehen, nach deren Ablauf sofort die Festsetzungsverjährung eintrat. Infolgedessen kam es zu zahlreichen Beitragsausfällen bei den Gemeinden und Zweckverbänden. Aus diesem Grund änderte der Landesgesetzgeber mit Wirkung zum 01.02.2004 die Bestimmung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg dahingehend, dass die Beitragspflicht „frühestens … mit dem Inkrafttreten einer rechtswirksamen Satzung“ entstehen sollte.
Das BVerfG stellte in den Entscheidungen vom 12.11.2015 nunmehr fest, dass diese Gesetzesänderung für die Beitragspflichtigen zu einer unzulässigen Rückwirkung führt, für deren Grundstücke nach der bis zum 31.01.2004 geltenden, alten Rechtslage die Beitragspflicht bereits entstanden und nach Ablauf der Festsetzungsfrist verjährt war.
Das BVerfG geht davon aus, dass hier eine echte und damit unzulässige Rückwirkung vorliegt, da nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt eingegriffen wird. Der Sachverhalt der Veranlagung zu einem Anschlussbeitrag war für solche Grundstücke abgeschlossen, für die eine Beitragspflicht aufgrund einer – unwirksamen – Satzung vor dem 01.02.2004 entstanden war, und die nicht innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist zu einem Beitrag veranlagt worden sind . In diesen Fällen eröffnet nach Auffassung des BVerfG die auf das Inkrafttreten der ersten „wirksamen“ Satzung abstellende Neufassung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg zum 01.02.2004 erneut die Möglichkeit, auch Eigentümer solcher Grundstücke zu einem Anschlussbeitrag heranzuziehen.
Das BVerfG stellt weiter fest, dass auch keine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit echter Rückwirkungen vorliege. Denn von den in der Rechtsprechung anerkannten Ausnahmefällen kommt hier nur die Vorhersehbarkeit einer Neuregelung wegen Unklarheit und Verworrenheit der ursprünglichen Gesetzeslage in Betracht. Bezogen auf § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. mussten die Betroffenen aber nicht mit einer Rechtsänderung wegen Unklarheit rechnen. Denn das OVG Berlin-Brandenburg habe sich in dem Urteil vom 08.06.2000 klar dafür entschieden, in dem Konflikt zwischen den finanziellen Interessen der Gemeinden und Zweckverbände einerseits und den Interessen der Bürger andererseits den Interessen der Bürger den Vorrang zu geben und das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht und den Beginn der Festsetzungsfrist möglichst frühzeitig beginnen und die Festsetzungsfrist möglichst bald enden zu lassen. Auch die Auslegungsbedürftigkeit einer Norm führe nicht zu einer zulässigen rückwirkenden Änderung; erst wenn eine Auslegungsoffenheit zur Verworrenheit der Rechtslage führt, dürfe der Gesetzgeber eine klärende Neuregelung auf die Vergangenheit erstrecken. Eine solche Unklarheit und Verworrenheit der ursprünglichen Gesetzeslage sei hier nicht gegeben gewesen.
Selbst wenn die Neufassung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg als unechte Rückwirkung in den o.g. Fällen eingeordnet würde, läge nach der Überzeugung des BVerfG ein Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes vor. Denn bei der dann gebotenen Gesamtabwägung habe der Gesetzgeber dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz der betroffenen Beitragspflichtigen in die Gewährleistungsfunktion des geltenden Rechts Rechnung zu tragen. Das Ziel der Umgestaltung des Abgabenrechts und Beitragsausfälle rechtfertigten die rückwirkende Abgabenbelastung auch im Hinblick auf die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung nicht.
Konsequenzen dieser Rechtsprechung dürfte sein, dass sämtliche Grundstücke, für die bereits vor dem 01.02.2004 die sachliche Beitragspflicht durch einen Anschluss oder eine Anschlussmöglichkeit an eine öffentliche Anlage sowie das Vorhandensein einer unwirksamen Satzung bestand, und für die am 01.02.2014 die Festsetzungsfrist des § 169 AO abgelaufen war, nicht mehr zu einem Beitrag veranlagt werden können.